GRNplus Dezember / 2022

31 „Der Pflegenotstand in Deutschland ist akuter denn je“ – titelte die Presse während der Corona-Pandemie. Das Problem trat nicht zum ersten Mal auf. Bereits Ende der 1950er-Jahre wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit aufgeregt über „Schwesternnot“ diskutiert, die Anfang der 1960er-Jahre sogar dazu führte, dass in mehreren Krankenhäusern ganze Stationen geschlossen werden mussten. Wie war es so weit gekommen? In Deutschland war nach 1945 die Krankenpflege stark christlich geprägt, das heißt als „Liebesdienst“ am Nächsten verstanden. Die Tätigkeit in der Krankenpflege forderte von den in Schwesternschaften und Mutterhäusern organisierten Krankenpflegerinnen, sich mit ihrer ganzen Person und Lebenszeit der Pflege kranker Menschen zu widmen. Dieses Lebens- und Arbeitsmodell wurde zunehmend unattraktiv für junge moderne Frauen. In der Frauenzeitschrift „Constanze“ hieß es bereits 1950: „Das junge Mädchen von heute ist nicht mehr bereit, dem Idol der barmherzigen Samariterin zuliebe alles mit sich machen zu lassen. Sie will einen Beruf haben, in dem sie sich ihren leidenden Mitmenschen widmen und ihnen helfen kann; sie wünscht aber eine fest umrissene Arbeitszeit, die ihr auch ein Privatleben gestattet. Sie wünscht eine einheitliche gerechte Entlohnung und einen klaren gesetzlichen Schutz.“ Die Folge war ein dramatischer Nachwuchsmangel in den traditionellen Schwesternschaften. Um den Beruf der Krankenpflege langfristig für junge Frauen attraktiver zu machen, mussten die Rahmenbedingungen verändert werden: Im Jahr 1961 wurde der Kost- und Logiszwang in der Krankenpflege abgeschafft und bald darauf die Möglichkeit der Teilzeitarbeit eingeräumt. Zudem wurde die wöchentliche Arbeitszeit sukzessive reduziert: 1956 auf 54 Stunden, 1958 auf 51 Stunden und ab 1960 galt die 48-Stunden Woche in kommunalen Krankenanstalten. Mit der Arbeitszeitverkürzung wuchs jedoch zugleich der Bedarf an qualifiziertem Personal in der Pflege, was die „Schwesternnot“ im Laufe der 1960er-Jahre weiter verschärfte. Bereits in den 1950er-Jahren wurden ausländische Pflegefachkräfte angeworben. So kamen bis 1976 insgesamt 11 000 Krankenschwestern aus Südkorea nach Westdeutschland, die zu der Zeit bereits akademisch ausgebildet worden waren. Ihnen folgten in den 1960er- und 1970er-Jahren indische Krankenschwestern sowie Pflegefachkräfte von den Philippinen, die dem Personalmangel in westdeutschen Krankenhäusern abfedern sollten. Zudem wurde in den 1960er- und 70er-Jahren wenig erfolgreich versucht, Männer für die Krankenpflege zu gewinnen. Um Krankenpflege männlicher wirken zu lassen, wurde ihnen der technische Bereich der Pflege nahegelegt und die Berufsbezeichnung „Klinikassistent“ geschaffen – all diese Bemühungen konnten Männer jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Tätigkeit in der Pflege bei wenig familienfreundlichen Arbeitszeiten schlecht bezahlt war. Nachdem sich die Situation in der Krankenpflege vor allem durch die Neugründungen von Krankenpflegeschulen entschärft hatte, spitzte sich nun die ökonomische Situation im Krankenhauswesen durch eine steigende Kostenentwicklung bei gleichzeitigem Absinken der Krankenkassenbeiträge zu. 1974 wurde der Begriff „Kostenexplosion“ in der gesundheitspolitischen Debatte geprägt. Als wesentlicher Kostenfaktor wurde das Pflegepersonal identifiziert, was nach dem Kostendämpfungsgesetz von 1977 zum Abbau von Pflegepersonal an den Krankenhäusern führte. Durch diese Sparmaßnahmen verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege. Der Pflegeberuf wurde zunehmend unattraktiver – dies führte mit den Jahren zu einem Pflegenotstand, dem nur unzureichend mit erneuter Anwerbung von ausländischen Pflegekräften begegnet werden konnte. Während der Corona-Pandemie wurde der Mangel an qualifiziertem Personal wieder offensichtlich. Pflegepersonal wurde in der Krise als wichtige Ressource zur Bekämpfung der Pandemie wahrgenommen. Lektüre zum Weiterlesen: Bundeszentrale für politische Bildung: Pflege. Praxis – Geschichte – Politik (=Reihe: bpp Schriftenreihe Bd. 10497), Bonn 2020. Prof. Dr. phil. Karen Nolte leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, das sich nicht nur mit der Historie, sondern auch mit der Gegenwart beschäftigt. Den Leserinnen und Lesern von GRNplus gibt sie regelmäßig Einblick in die Medizingeschichte und dieses Mal in die Geschichte und in die Gegenwart des Pflegenotstands. Medizingeschichte des Pflegenotstands Die lange Geschichte Foto: RuprechtKarls-Universität Heidelberg

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