GRNplus Mai / 2022

32 Derzeit sind Impfgegner in der Öffentlichkeit präsent, die nicht nur für sich das Selbstbestimmungsrecht fordern und sich entschieden gegen eine gesetzliche Impfpflicht positionieren, sondern auch Bürgerinnen und Bürger bewusst davon abhalten wollen, sich impfen zu lassen. Aber weder das Impfen noch Impfgegnerschaft ist historisch ein neues Phänomen. Im Jahre 1796 impfte der schottische Landarzt Edward Jenner (1749–1823) einen achtjährigen Jungen mit Kuhpockensekret und wies mit diesem Humanexperiment die Wirksamkeit dieser Impfmethode gegen Menschenpocken nach. Nach damaliger Vorstellung von Wissenschaftlichkeit reichte ein Experiment an nur einem Menschen aus, um den Nachweis zu erbringen, dass die Impfung wirksam war. Abgeleitet von dem lateinischen Wort vacca für Kuh, heißt die Schutzimpfung noch heute Vakzination. Erst in den 1940er-Jahren war der Nachweis von Viren möglich. Jenners Impfmethode verbreitete sich schnell in Europa. Bayern war der erste deutsche Kleinstaat, in dem 1807 eine Impfpflicht gegen Pocken erlassen wurde. Kurz nach der Gründung des Deutschen Reichs wurde 1874 das Reichsimpfgesetz erlassen. Im gleichen Jahr wurde der erste „Anti-Impfverein“ in Hamburg gegründet, dem zahlreiche weitere Vereine folgten, die den Kern der Impfgegnerbewegung ausmachten. Der Widerstand gegen Impfungen richtete sich gegen den staatlichen Zugriff auf Gesundheit und die körperliche Integrität. Zu Beginn der Pockenschutzimpfung entwickelten Eltern aus guten Gründen eine Impfskepsis: Aufgrund von Impfstoffmangel wurde die Technik des Überimpfens angewendet: Mit dem Sekret der Impfpustel eines vakzinierten Kindes wurde das nächste geimpft. Auf diese Weise wurden mit der Pockenimpfung andere gefährliche Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Syphilis übertragen, sodass gesunde Kinder durch die Pflichtimpfung schwerkrank wurden. Bevor die Revakzination in den 1830er-Jahren eingeführt wurde, erkrankten Kinder trotz Impfung an den Pocken, was ebenfalls dazu beitrug, dass Eltern der Impfung nicht vertrauten. Andere Gegner fürchteten, dass mit Kuhpockensekret geimpfte Eigenschaften von Kühen annehmen würden. Die Pockenimpfung erwies sich letztlich als erfolgreich, auch wenn hin und wieder die Bereitschaft der Bevölkerung, sich impfen zu lassen, nachließ. In den späten 1950er- und 1960er-Jahren kam es zuweilen zu kleinen Pockenepidemien, wie in Heidelberg, als 1958 in der Ludolf-Krehl-Klinik ausgelöst durch einen Oberarzt, der nach einem Indienurlaub viele Menschen auch außerhalb der Klinik mit Pocken infizierte. Im Jahr 1980 erklärte die WHO die Pocken nach einem durchgreifenden Eradikationsprogramm als „ausgerottet“. Aus den Konflikten mit der Impfgegnerschaft hatte man jedoch gelernt. Im Nationalsozialismus gab es eine großangelegte Kampagne in Radio, Kino, Theater und mit einer flächendeckenden Plakatierung für die freiwillige Impfung gegen Diphtherie. Die Kampagne arbeitete mit Emotionen, indem sie Mütter an ihre Verantwortung und den einzelnen Volksgenossen an seine Verantwortung für den gesunden Volkskörper erinnerte. Die Methoden der NS-Kampagnen wurden unreflektiert in der Nachkriegszeit übernommen, um für die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis) zu werben. Die westdeutsche Impfkampagne mit dem Slogan „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ war sehr erfolgreich, mit der Einführung der oralen Impfung 1962 konnten die Neuinfektionen und somit auch die Todesfälle deutlich gesenkt werden. Mit diesen und anderen Impfungen wurden gefährliche Infektionskrankheiten aus Europa erfolgreich verdrängt. Das hatte zu dem Bewusstsein geführt, in einer „immunisierten Gesellschaft“ zu leben – diese Gewissheit wurde durch die COVID-19-Pandemie nachhaltig erschüttert. Lektüre zum Weiterlesen: Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft. Impfen im 19. und 20. Jahrhundert (=bpb Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10721), Bonn 2021. Prof. Dr. phil. Karen Nolte leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, das sich nicht nur mit der Historie, sondern auch mit der Gegenwart beschäftigt. Den Leserinnen und Lesern von GRNplus gibt sie regelmäßig Einblick in die Medizingeschichte und dieses Mal in die Geschichte des Impfens und der Impfgegnerschaft. „Historisch kein neues Phänomen“ Medizingeschichte Pockenimpfset, Medizinhistorische Lehrsammlung Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Heidelberg, © IGEM Universität Heidelberg, Karen Nolte

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